Suizid

Ich erinnere mich genau als wäre es gestern gewesen. Es ist jedoch mehr als 30 Jahre her. Ganz unvermuteter Besuch. Man läuft sich jeden Tag über den Weg, aber jeder lebt sein eigenes Leben.

Dann sitzt er vor mir auf dem Boden. Ich schaue ihn an und denke: Was will er bloß von mir? Er kommt doch sonst nie. Er trinkt ein Bier, erzählt vom bevorstehenden Skiurlaub. Ich suche derweil in mir nach einer Antwort und finde sie nicht. Er will gar nicht mehr gehen, aber irgendwann tut er es doch, es ist spät. Bei mir verbleibt ein schlechtes Gefühl.

Am nächsten Tag, so um die Mittagszeit, kommt der Anruf: Er hat sich vor einen Zug geschmissen. Nur ein paar Atemzüge entfernt. Er muss so um die 22 gewesen sein.

Wieso habe ich, die sonst alles sieht, seine Not nicht gesehen? Wieso habe ich, die hört, wenn niemand spricht, nicht die Geschichte gehört, die hinter den Geschichten stand, die er erzählte? Wieso habe ich, die er als Rettungsanker suchte, so versagt?

Seit über 30 Jahren denke ich darüber nach und finde nur eine Antwort: Wenn ich es hätte sehen sollen, dann hätte ich es gesehen, wenn ich es hätte hören sollen, dann hätte ich es gehört.

Irgendwie muss auch darüber etwas Gott Gewolltes gelegen haben.
Irgendwie regierte auch hier Gottes leitende Hand.
Irgendwie war auch hier Kreuz und Frieden.

Gottes Wege sind unerforschlich.
In guten wie in schlechten Tagen.
Ich bin mir nicht so sicher, bei wem hier die guten und
bei wem die schlechten Tage verblieben sind.

Ach ja, was mich auf diese alten Gedankenpfade brachte: Ein digitaler Selbstmord, vor ein paar Tagen hier vollbracht. Einfach auf das rote Kreuz klicken und Stille ist im Blog. Ganz unblutig. Wo die Leichen liegen, ahne ich nur.

Gefängnis