Lieber Luther,
der letzte Brief, den ich dir schrieb, handelte von Blindheit. Von der Blindheit des Tilmann Moser und auch von einer partiellen Blindheit des Predigers. Es erfüllt mich mit einer gewissen Ehrfurcht und Andacht, dass es im Predigttext dieses besagten Sonntages um die Heilung eines Blinden ging (Joh 9, 1-7). Das ist in meinem letzten Brief ganz unter den Tisch gefallen und fällt mir gerade ins Auge.
Um das gleiche Thema geht es nämlich auch im heutigen Predigttext (Mark 8, 22-26). Dass es heute schon wieder um eine Blindenheilung geht, auch das erfüllt mich mit Ehrfurcht und Andacht. Es geht – man höre – um einen 2-Stufen-Heilungs-Plan. Gott ist im täglichen Leben sehr präsent.
Wieso tut Jesus gerade an Blinden so viele Wunderheilungen? Für was stand die Blindheit? Was war die Botschaft dahinter? Was sagt uns das heute noch?
Blindheit war schon zu Jesu Zeiten und ist auch heute noch die Volkskrankheit Nr. 1. Wir sind blind gegenüber den Nöten und Bedürfnissen unserer Mitmenschen, wir verschließen die Augen vor so vielem, bei dem wir hinschauen sollten, wir sind manchmal blind vor Zorn. Blind sind wir auch Gott gegenüber, können sein Wort nicht lesen oder ihn nicht sehen.
Oft ist so viel Finsternis in uns und um uns herum, dass wir nur noch im Dunkeln tappen.
Die schlimmste Art der Blindheit ist aber ein blindes Herz. Jesus ist gekommen, um
den Armen das Evangelium zu verkünden,
die zu heilen, die gebrochenen Herzens sind,
den Gefangenen zu predigen
den Blinden ein „Gesicht“ zu geben (Luk 4, 18),
d.h. die Blinden sehend zu machen, sie aus ihrer Gefangenschaft in der Dunkelheit zu befreien, ihre verletzten Herzen zu heilen, durch sein Wort, durch das Evangelium, Gott in ihm selbst ein Gesicht zu geben, damit wir sehend werden, ihn ansehen können und er uns. Denn ein Blinder kann keinem Blinden den Weg weisen, sie fallen gemeinsam in die Grube ( Lukas 6, 39). Solange die Menschen blind sind, finden sie nicht zu Gott. Grab anstatt Auferstehung, Dunkelheit anstatt Licht, Verirrung anstatt Nachfolge.
Bei der Heilung des Blinden bei Jericho entwickelt sich folgender Dialog:
Jesus fragt den Blinden: Was willst du, dass ich dir tun soll?
Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde.
Jesus aber sprach zu ihm: Gehe hin; dein Glaube hat dir geholfen. Und alsbald ward er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege. (Mark 10, 46-52).
Sein Glaube hat ihm geholfen, er ward sehend und folgte nach. Damit ist im Prinzip alles gesagt. So geht es. Dein Glaube hat dir geholfen, hat dich heil gemacht, geh den Weg, den du jetzt siehst.
Ins Auge sticht in der Heilungsgeschichte in Markus 8, dass Jesus zwei Anläufe zu brauchen scheint, um dem Blinden die Augen zu öffnen. Wie auch schon in der Geschichte in Joh 9 heilt Jesus auch hier zunächst mit Spucke. Spucke steht hier für sein lebendiges Wasser, sein Heilwasser, das die Dunkelheit hinwegschwemmt. Aber, was sieht der Blinde: „Ich sehe die Menschen, denn ich sehe sie wie Bäume umhergehen.“ (Mark 8, 24, nach Elberfelder Übersetzung). Das ist der entscheidende Satz in dieser Geschichte.
Der Blinde sieht viele verschiedene Arten von Menschen. Der Baum steht für den Menschen in seinem natürlichen Wachstum. Es gibt kleine und große Bäume, unscheinbare und hervorstechende, schwache und mächtige, Bäume die von innen her faulen und Bäume, die von Schädlingen befallen sind. Manche Bäume nehmen den anderen das Licht, andere wiederum gedeihen im Schatten von größeren Bäumen. Manche Bäume passen gut zusammen, manche können nicht miteinander gedeihen, manche wachsen schnell, manche langsam. Bäume brauchen unterschiedlichen Nährboden und sie gedeihen nur in einem bestimmten Klima. Manchen Bäumen reichen flache Wurzeln, manche haben tiefe Wurzeln. Es gibt Nadel- und Laubbäume, Bäume, die sich gegenseitig befruchten, unfruchtbare und fruchtbare Arten.
Der Baum ist in der Geschichte ein Bild für den Menschen in seiner Vielgestaltigkeit. Der Blinde, den Jesus heilt, sieht zunächst vor lauter Bäumen nicht diejenigen, die auf Gottes Acker wachsen, die für ihn fruchtbaren Bäume. Er muss sich an sein Sehen erst gewöhnen, er muss erst lernen zu sehen. Er weiß nicht, an wem er sich orientieren soll. Ihm ist seine Blindheit zwar genommen, aber noch kann er nicht klar erkennen, welcher Baum für ihn gut ist und welcher nicht. Er sieht, aber er kann nicht einordnen, sieht nicht hinter die Fassade, er sieht die Oberfläche, nicht in die Herzen und nicht mit dem Herzen. Er spürt aber, dass das nicht alles sein kann. Jesus erkennt das an der Art der Antwort, die der Blinde auf seine Frage gibt, ob er etwas sähe. Der Blinde scheint sich zu wundern.
Offensichtlich gibt es unterschiedliche Arten von Sehen: eine oberflächliches und ein tiefer gehendes, unscharfes und klares Sehen. Sehen hat immer zwei Seiten: der der sieht und der der angesehen wird. Der Blinde sieht selbst noch nicht klar und sieht auch diejenigen, die er ansieht, nur undeutlich.
Deshalb geschieht eine zweite Heilung. Jesus legt also dem Blinden ein zweites Mal die Hände auf die Augen, um diesen Grauschleier von seinem innren und äußeren Auge zu nehmen. „und er sah deutlich und ward wieder hergestellt und sah alles klar.“ Es ist ein doppeltes Heilungsgeschehen, zwei Stufen, nach innen und außen gewendet, der Sehende lernt wie man mit dem inneren Auge sieht und die zu sehen, die er ansieht.
Erst jetzt ist er wirklich sehend. Er war wieder hergestellt heißt, er ist wieder in seinem Urzustand, er ist heil, gesund, die Krankheit, die innere Blindheit ist von ihm gewichen und erst durch die zweite Heilung war er auch in Gottes Klarheit gekommen. Er konnte Jesus ins Gesicht schauen und die Bäume, die Menschen, in all ihren Unterschieden erkennen, in ihrem unterschiedlichen natürlichen Wachstum.
Lieber Luther, eine tolle Geschichte, ich bin ganz begeistert. Das Alte und Neue Testament berichtet viel von Blindheit, geheilte und ungeheilte. In dieser Geschichte wird klar, wieso für Jesus die Heilung von Blinden so wichtig ist, wieso er sich so um sie kümmert, so oft an ihnen Wunder tut. Er will damit sagen: So handele ich an euch. Ich heile euch, ich mache euch sehend, seht was ich vermag, lasst euch von mir anrühren, macht die Augen auf, dann seht ihr klar.
Aber, lieber Luther, manchmal sind wir alle Blindschleichen. Dann sollten wir uns von Jesus in die Augen spucken lassen. Aber nicht zwinkern, damit es nicht daneben geht. Ja, Gott ist im täglichen Leben sehr präsent, ob wir ihn sehen oder nicht.
Herzliche Grüße
Deborrah
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