Sonntagsläuten

Zuerst sind es vier klägliche Schläge, volle Stunde, 18.00 Uhr. Dann aber bewegt sich die Kirche, man hört das Gebälk im Kirchturm stöhnen als ob es das nun Kommende kaum tragen könnte. Die Glocken setzen sich in Bewegung, man hört ihr Gewicht.

Keine Harmonie. Sie haben sich noch nicht aufeinander eingeschwungen. Als ob jede ihr eigenes Ding macht, ohne Achtsamkeit auf die Nebenglocke.

Der Kirchenraum über mir bebt. Ich spüre die Glocken über mir, obwohl sie dort gar nicht sind. Ich bin im Osten, die Glocken im Westen der Kirche.

Was für ein gebietendes Rufen. Nicht zu überhören:
„Hört, ich bin da,
ich bin da, auch wenn ihr mich nicht wirklich hört.“

Zornig klingt es, aufbrausend.

Schließlich beruhigen sie die Glocken. Sie fangen an, sich aufeinander einzuschwingen. Es dauert seine Zeit, dann klingen sie in ruhigem Gleichklang, bestimmt, keinen Zweifel aufkommen lassend.

Ich töne und bebe mit. Plötzlich höre ich es: Trompetenklang, verborgen im Glockengeläut. Die Trompeten von Jericho, schießt es mir durch den Kopf. Die Mauern sind gefallen. Wie gebannt höre ich diesem Trompeten-Glocken-Wohlklang zu.

Die Glocken werden leiser, ein letzter zärtlicher Glockenschlag.

Klingende Stille danach. Sonntagsgeläut.

Kirchtum

Morgenzauber

Der frühe Morgen hat seinen besonderen Zauber. Ich liebe den frühen Morgen. Jetzt im September/Oktober erstrahlt er in den Farben des reifen Jahres.

Klare blaue Himmel hinter ebenso klaren dunklen Wolkengebirgen, Sonnenaufgang in sattem Orange, dampfende Seen, wie verwunschen. Die Schafherde davor in ihrem Pferch, noch nicht erwacht. Die Sonne ein orange-gelber Ball. Über den Auen schwebt lichter Nebel. Überall satte Farben, als wolle die Natur noch ihre ganze Schönheit aufbieten, bevor sie erstirbt. Pralle Fülle überall.

Gern würde ich anhalten und Teil dieses morgendlichen Gottesdienstes werden. Aber ich bin eine Ameisen-Arbeiterin auf der Ameisenstraße. Vor mir und hinter mir Ameisen. Diszipliniert und zielbewusst bewegen sie sich in eine Richtung. Jede kennt ihre Aufgabe.

Einen Augenblick lasse ich meiner Sehnsucht freien Lauf. Aber ich fahre weiter, halte nicht an. Ich hoffe auf das Morgen. Vielleicht schaffe ich es morgen anzuhalten.

Er weidet mich auf einer grünen Aue.

Morgenzauber

Aus Wüsten Gärten machen

Mir ist heut morgen schon ein sehr schöner Text begegnet.

Wo ein Mensch Vertrauen gibt,
nicht nur an sich selber denkt,
fällt ein Tropfen von dem Regen,
der aus Wüsten Gärten macht.

Wo ein Mensch den andern sieht,
nicht nur sich und seine Welt,
fällt ein Tropfen von dem Regen,
der aus Wüsten Gärten macht.

Wo ein Mensch sich selbst verschenkt
und den alten Weg verlässt,
fällt ein Tropfen von dem Regen,
der aus Wüsten Gärten macht.

(Text: Hans-Jürgen Netz 1975)

Nichts hinzuzufügen.

Aus Wuesten Gaerten machen

Auf der Brücke bleiben

Meine Pilgerreise ist zu Ende. Ist sie das wirklich? Ist die Kunst aller Künste nicht vielmehr, die Schätze, die man in seinen Auszeiten gefunden hat, auch im Alltag zu bewahren, sie im Alltag zu leben, so dass sie zum wirklichen, verinnerlichten Leben werden?

Eben nicht mit Arbeitsbeginn wieder im Hamsterrad durchzustarten bis man mit hängender Zuge gerade noch so die nächste Auszeit erreicht. Das kenne ich zur Genüge, das will ich diesmal nicht so halten.

Das bedarf Achtsamkeit nach innen und außen. Ein Innehalten, bevor man von der Brücke fällt. Ein Hören auf die innere Stimme, ein Sehen mit dem inneren Auge. Ein Gelassen bleiben mit der inneren Gewissheit, dass man unantastbar ist, was immer auch passieren mag.

Einfach in seinem Rhythmus auf der Lebens-Straße weitergehen, mit dem Lebens-Rucksack auf dem Rücken, Stecken und Stab als Stütze und dem inneren Kompass als einzigem Wegweiser.

Einfach?

Nein, einfach ist das nicht. Man muss sich sehr in Acht nehmen, nicht gleich wieder in eingeübte Verhaltensmuster zu verfallen.

Dennoch: Genauso entscheiden wie ich mich zu dieser Reise aufgemacht habe, genauso entschieden will ich sie fortsetzen. Der Hall soll zu keinem Nachhall werden. Auch der Blog nicht. Ich glaube er hilft mir, den Kurs nicht zu verlieren. Und der Zuspruch tut gut.

Psalm 23 kommt mir in den Sinn, den hatte ich schon während der gesamten Pilgerreise im Kopf. Er erzählt vom Pilgern durchs Leben. Eigentlich kann ich da doch gelassen bleiben. Eigentlich.

Brücke über Wasser

Überraschungen

Kurz vor neun kommt mein Taxi, das mich zum Bahnhof nach Holdorf bringt. Es entwickelt sich eine angeregte Unterhaltung mit dem Taxifahrer, einem älteren Herrn. „Was, pilgern waren Sie, ganz allein?“ fragt er mich und schaut mich ganz entgeistert an, als wolle er das nicht glauben. „Ja“, sage ich. Darauf er: „Das ist aber mutig“. Hmm, auf die Idee bin ich bisher noch gar nicht gekommen. „Darf ich fragen wie alt Sie sind?“ Ich sage es ihm. Er ringt nach Worten und meint dann „Ich will mal sagen in diesen jungen Jahren ist das doch eine ganz schöne Anstrengung, das muss man sich erst einmal zumuten“. Und entschieden: „Das brauche ich für mich nicht“. Dann erzählt er von seinem Herzinfarkt und seinen Krankheiten.

Mordkuhle

Am Bahnhof in Holdorf scheint er immer noch so beeindruckt, dass er mit mir zum Bahnsteig geht und die Abfahrtszeit vom Zug heraussucht, obwohl es nur ein Gleis gibt, schon Leute da sind und es klar ist, dass der Zug gleich kommt. Ganz als müsse er dafür sorgen, dass ich auch in den Zug komme.

Ich schmunzle vor mich hin und freue mich. Die Denkgleise des freundlichen Mannes scheinen etwas aus der Bahn gekommen zu sein.
Überhaupt treffe ich interessante Leute auf der Rückreise. Am Bahnsteig in Holdorf erscheinen nach und nach verschiedene Menschen, um die Vierzig, zu einem Klassentreffen. Sie wissen aber nicht, wohin es geht, das scheint eine Überraschung zu sein. Dementsprechend fällt auch das Gepäck unterschiedlich aus: von klein und handlich bis zu einem riesigen Koffer, der für mindestens 2 Wochen Platz bietet und mehrmaliges Umkleiden am Tag erlaubt. Ein Herr kommt in Badelatschen und kurzen Hosen. Sagt ein anderer zu ihm zur Begrüßung: „Willst du Dir eine Blasenentzündung holen?“
Ich musste nach Luft japsen, so überrascht war ich. Ich wusste gar nicht, dass dies ein Männerthema ist.

Froschquaken

Und noch eine Überraschung auf der Rückreise, die sich tatsächlich so abspielte. Im Zug gibt es moderne, einfach zu bedienende Fahrkartenautomaten. Irgendwo auf der Strecke zwischen Holdorf und Wildeshausen war eine Gruppe von 4 Mädchen zugestiegen. Zwei Mädchen, sie waren tatsächlich, alle Blondinenwitzen bestätigend, blond, kümmerten sich um die Gruppenfahrkarte: 33 EUR. „Oh Scheiße“, meint das eine Mädchen, „wieviel muss dann jeder bezahlen?“ „Darum kümmern wir uns später“, meinte das 2. Mädchen, „jetzt kaufen wir erst einmal die Fahrkarte“.
Ich wollte schon helfend einspringen und rufen 8,25 EUR für jeden, dachte dann aber es ist vielleicht besser, wenn sie sich selbst um die Lösung dieser Rechenaufgabe bemühen.

Sonnenblume
Perspektivwechsel

Was ist das nur für ein Tag heute? Was für Menschen begegnen mir? Oder liegt es an mir? Ich bin tagelang alleine gelaufen, ohne zu reden, höchstens singend, sehr in mich gekehrt. Ist meine Perspektive verschoben? Schaue und höre ich anders? Mehr im Jetzt, wie am Bergsee? Habe ich bisher geschlafen? Ist das Leben vielleicht ein Kuriositätenkabinett, das ich bisher noch gar nicht entdeckt habe?
Irgendwie komme ich mir vor, wie wenn ich in der falschen Vorstellung wäre, wie wenn ich im Kino sitze und staunend den Film betrachte, der vor mir abläuft und mich frage, ob das wohl das Leben ist?
Verschobene Realitäten.

Tau Huus

Angekommen

(06.09.12)

Die Strecke zwischen Steinfeld und Damme ist die schönste. Meine Vorfreude war berechtigt. Fast nur Wald, zwar viel rauf und runter, aber – wie ich schon geschrieben habe – im Wald laufe ich wie beflügelt.

Waldpfad

Ein Fest für alle Sinne. Der Geruch nach Moder und Nadelbäume,  das Spiel des Lichts zwischen den Blättern und Baumstämmen, das Tuscheln der Blätter mit dem Wind, der weiche Waldboden,  die Spuren, die Wassermassen auf den Wegen hinterlassen haben und sie teilweise fast nicht passierbar machen.  Und auch noch ein paar Vögel singen ihr Lied.

Am meisten liebe ich den Dammer Wald am frühen Morgen. Deshalb wollte ich früh los, habe es aber erst um 7.30 geschafft. Dann laufe ich und laufe, 3 ½ Stunden am Stück, ohne dass ich ein einziges Mal das Bedürfnis nach einer Pause gehabt hätte.  Um 11.15 hatte ich bereits den Dammer Bergsee erreicht, ich war also kurz vor dem Ziel. Das brauchte Vorbereitung und so richtete ich mich direkt am Wasser ein.

Lichtung

Es war recht frisch, der Wind wehte kalt und ich musste mich dick einmummeln, damit ich bleiben konnte. Die Luft war klar, Wolken wechselten mit tiefblauem Himmel und Sonnenschein. Ein herrliches Licht. So saß ich drei Stunden am Ufer des Bergsees und schaute dem Wasser zu.

Außer mir kein Mensch. Was mache ich Mensch damit?

Es braucht fast 3 Stunden, bis ich den Zauber des Augenblickes begreife und bereit bin in vollen Zügen in mich einfließen zu lassen.

Zuvor bin ich mit mir selbst beschäftigt. Mich auf die Ankunft in Damme vorbereiten. Wo übernachte ich? Wann fahre ich wie zurück nach Wildeshausen? Ich starte das Notebook, um die Fahrpläne und Taxi Telefonnummer herauszubekommen. Aber es ist zu hell, ich kann rein nichts auf den Bildschirm erkennen. Das ist ein Wink des Himmels, denke ich, lass es. Ach ja, am Montag muss ich schon wieder arbeiten. Wegschieben. Und so weiter.

Irgendwann wird mir klar, dass ich alles Mögliche tue, nur nicht diese kostbare Zeit, in der ich hier am See sitze, zu genießen. Ich fange an, mich auf den Augenblick zu konzentrieren.

Das Bild auf dem Wasser wechselt laufend, je nach Wind und Wolkenspiel. Jeden Augenblick sieht das Wasser anders aus. Die Sonnenstrahlen surfen in silbernen Glanz wie einzelne Lichter über die Wasseroberfläche. In der anderen Richtung bilden sich grüne Samtbahnen, die sich in Falten legen. Am Ufer gegenüber schwimmen Schwäne. Ringsumher dichte Laubwälder, die mit ihrem noch grünen Kleid die Hügel säumen. Der Wind unterhält sich mit den Blättern. Links von mir biegt sich eine Zitterpappel im Wind. Die Wolken liefern sich mit der Sonne ein Wettrennen um die Oberhand. Sie gewinnen abwechselnd. Alles ist in stetiger Veränderung.

Ich komme mir vor wie Morgana, die Herrin vom See. Reiche Augenblicke, von denen ich lange zehren kann. Ich will von keinem etwas, keiner will von mir etwas. Ich sitze hier einfach und bin Teil dieser sich bewegenden Veränderung. Friede um mich herum, Stille in mir.

Bergsee Damme

Dann gehe ich weiter. Auch die restliche Strecke um den Bergsee ist grandios, ich kann keine angemessene Beschreibung finden.

Den letzten Teil auf das Kloster zu nehme ich den unteren Weg, an der Bexadde entlang. Ich bin ihn schon viele Male gelaufen, aber noch nie mit so einem schweren Rucksack auf dem Rücken. Da auch er ziemlich ausgespült ist, bin ich froh um meine Stöcke, die mir Halt geben. Jedes Mal, wenn ich die hier entlang gehe denke ich, ich gehe den Weg zum ersten Mal. Meine Wahrnehmung richtet sich nach meinem inneren Zustand.

Den steilen Berg im Wald zum Kloster hinauf schaffe ich leichtfüßig. Ich gehe direkt in die Kapelle, um erst einmal anzukommen. Danach laufe ich das Labyrinth, mit Rucksack das Mantra singend, das ich schon in der Osternacht dort gesungen habe. Das Labyrinth kennt mich schon in vielen Variationen.

Nun muss ich mich entscheiden. Heute noch zurück nach Wildeshausen oder im Kloster um Pilgerherberge fragen? Ich möchte einen würdigen Abschluss dieser Pilgertour und so gehe ich den Berg zum Klostereingang hoch. Ich werde im Kloster übernachten. Mit Vesper, Komplet, Laudes und Messe kann ich in kurzer Zeit noch viel für meine Seele tun.

(07.09.12)

Die Laudes habe ich heute morgen verschlafen. Wanderer sind müde.

Waldesruhe

Bunte Pferde

(05.09.12)

Ich bin in Steinfeld. Nicht per Fuß, sondern per Bahn. Wie sollte ich den ganzen Tag laufen und anschließend noch wahrnehmen, wo ich gelandet bin?

Deshalb beschließe ich, zunächst in Vechta zu bleiben und nicht gleich an nächsten Morgen weiterzulaufen.

Ich beginne den Tag mit einer Messe in St.Georg. Der Priester schien sich mehr durch die Messe zu quälen. Ich glaube er hatte ziemliche Rückenbeschwerden. Ist das Tag für Tag nicht deprimierend? Du stehst in einer riesigen Kirche mit sicher mehr als 1000 Plätzen vor 20 Leuten und quälst dich durch den priesterlichen Alltag?

Auf dem Rückweg zu meiner Unterkunft ist mir meine Fototasche samt Ersatzakku abhanden gekommen.

In der Zitadelle schreibe ich um die Mittagszeit meinen Blog vom Vortag. Nein, nicht unter Linden, sondern unter Zitterpappeln. Es ist kalt.

Anschließend gehe ich in das Museum im Zeughaus. Die „Gefängnisgeschichte“ Vechtas und die damit verknüpften und erzählten Einzelgeschichten berühren sehr. Zu sehen, wie diese Menschen existieren mussten, bedrückt. Auch die übrige Kriegsgeschichte: Mit unsäglich vielem Leid und Leiden verbunden. Nach dem Warum fragt man sich seit dem Beginn der Menschheit.

Steinfeld ist ein Ort, der am Durchgangsverkehr erstickt. Wieso fahren hier eigentlich so viele Autos mitten durch den Ort? Man kommt kaum über die Straße.

Das einzig wirklich Erwähnenswerte ist wieder einmal die Kirche. Dort gibt es die weltweit einzige holzgeschnitzte Nachbildung von Leonardo Da Vincis Abendmahl. Sehr beeindruckend. Die Kirche bekommt dadurch eine ganz andere Ausstrahlung als man sonst von Kirchen gewohnt ist. Irgend etwas ist anders. Direkt vor dem „Abendmahl“ zu stehen, muss man aushalten.

Abendmahl Steinfeld

Ansonsten: Lauter bunte Pferde in Steinfeld

Bunte Pferde

Ich freue mich auf den Dammer Wald morgen. Ich will in aller Frühe los.

Seelentag

An sich dachte ich, es geht wandernd pilgernd nicht mehr weiter. Die Hüfte ist vom Gewicht des Rucksacks aufgeschrubbt, die Schultern schmerzen, der rechte große Zeh ist entzündet, das Knie des linken Beines lässt nur ein Humpeln zu. Schon der Gedanke, den Rucksack wieder auf meine Schultern laden zu müssen, bereitet Schmerzen.

Aber, sie finden sich doch, die Jakobsmuscheln, die einem den inneren Weg zeigen.

Ich bin in einem sehr schönen Hotel gelandet. Einem alten, barocken Gemäuer, einem Familienbetrieb mit sehr freundlicher Familie. Die Gaststube ist heimelig, die Küche hervorragend. Absolut weiterzuempfehlen.

Und dann ist da die Kirche. Eine große Kirche. An dem Ort standen schon viele Vorgängerkirchen. Das spürt man. Es ist ein Ort, an dem schon viele Gebete, Tränen, Bitten, Wünsche, Danke gelebt wurden. Sie sind nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Das sind Orte mit einer besonderen Kraft, heilige Orte.

Schutzraum

Ich hatte die Kirche zwei Stunden ganz für mich. Der große Raum um mich herum wie eine Hülle, die mich und meinen geschunden Körper umfasste. Es kehrte Ruhe von der lärmenden Welt in mich ein, etwas, das ich bisher auf dieser Reise vermisst hatte. Ich spürte wieder Kraft in mir und es entwickelte sich eine Vorstellung, was nun weiter geschehen sollte.

Hoffnung

Und ich hatte eine Begegnung mit der sogenannten Lourdes-Grotte. Sie wurde Anfang des Jahrhunderts errichtet von einem Bürger als großes Danke für die Heilung seiner Frau. Wie dieser Ort im Alltag auch heute noch genutzt wird, gibt ihm Kraft – Kraft als Ort der Hoffnung. Viele Kerzen sind aufgestellt, Rosenkränze hängen an den Grottensteinen, in einer kleinen Papiertüte ist ein Engel. Wahrscheinlich hat eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, ihren Schmerz hierhin getragen. Ja, auch dies ist ein heiliger Ort für mich.

Ich bin dankbar, dass ich an diesem Ort pausiert habe. Meiner Seele und meinem Körper hat er gut getan. Den Tag nehmen, wie er ist.

Ich werde morgen nach Vechta wandern.

Kraftort

Zitternde Wasser

(02.09.2012)

Die zweite Etappe hat mich an meine Grenzen gebracht. Wenn man unterwegs ist, hat man erst mal keine andere Wahl mehr und muss durchhalten, auch wenn das Ziel sehr weit weg erscheint.

Auch wenn es gar nicht so klingt und sich erst recht nicht so anfühlte: Es war eine schöne Etappe. An sich. Ich bin schon vor acht ohne Frühstück los, da ich schon ahnte, dass die 23 km für mich lang werden könnten und ich Zeit brauchen würde.

Die unangenehmsten Strecken sind immer die Strecken durch die Orte. Zuviel festen Boden unter den Füßen. Nicht viel, an dem sich das Herz erfreuen könnte. Asphalt tötet. Im Wald läuft es sich viel angenehmer und weicher. Man riecht den Wald. Alle Sinne sind beschäftigt, man geht beschwingter. Und man kommt dem eigentlichen Sinn des Pilgerns näher.

Weg und Ziel

Ja, wieso pilgere ich eigentlich? Und wieso sage ich, ich pilgere? Wo ist der Unterschied zum Wandern oder Trecken? Wenn man an den Grenzen ist, fängt man an zu hinterfragen was man tut und ob das wirklich gut für einen ist.

Pilgern ist keine sportliche Betätigung, dann wäre es nichts für mich als „no sports“, wenngleich ich mir gestern einen durchtrainierteren Körper gewünscht hätte. Es ist kein Kilometerfressen oder sich Stempel abholen, so dass man später auch seinen Pilgerpass stolz präsentieren kann. Pilgern ist eine innere Angelegenheit. Laut Wiki ein „in die Fremde gehen“. Wohin in die Fremde?

Obwohl wir uns zu einem bestimmten irdenen Ort aufmachen, ist es letztendlich ein Ort, der kein physischer Ort ist, sondern ein innerer Ort der Sehnsucht, der Hoffnung und der Heilung. Das „in die Fremde aufmachen“ erleichtert nur eingefahrene Spuren zu verlassen. Und den Blick dafür zu schärfen, dass wir diesen Ort zuallererst in uns selber finden müssen. Es ist eine Art meditatives Wandern an den heiligen, göttlichen Ort in uns selbst. Jakobsmuscheln, die einem den Weg weisen, gibt es da nicht.

Brautbett

Wie finde ich dann den Weg? Muss man sich hierfür körperlich bis in den roten Bereich verausgaben? Gestern, am späten Nachmittag, bin ich in Visbek auf das Hotelbett gefallen. Alles tat weh, ich hatte Schüttelfrost und die nächsten 4 Stunden war ich wie tot. Ich wusste, dass ich unbedingt essen musste und rappelte mich schließlich hoch, immer noch wie im Nebel .

Nein, so kann das doch nicht gehen. Es war mir ziemlich klar, dass ich am nächsten Morgen nicht gleich weitergehen konnte. Man muss einsehen, wenn man seine körperlichen Grenzen erreicht oder gar überschritten hat. Mit „Augen zu und durch“ kommt man da nicht mehr weiter. Ich möchte ungern von unterwegs den Notruf wählen müssen. Der Entschluss war also gefasst: Ich raste hier, dann sehe ich weiter.

Ich glaube auch das ist pilgern: DenTag zu nehmen und zu lassen wie er ist, seine Pläne und Vorstellungen, wie Pilgern an sich und insbesondere das eigene Pilgern auszusehen hat. Demut ist gefragt. Lassen. Einfach so wie es ist.

Zitternde Wasser.

Zitternde Wasser

Jakobsmuschel

Die erste Etappe ist geschafft. Von Harpstedt nach Wildeshausen. Mit unterschiedlichen Erfahrungen.

Ich weiß jetzt, wieso ich partout in Harpstedt anfangen wollte. Es gibt dort eine wunderbare Christuskirche, eine Basilika, mit einem tollen Altar. Als ich eintraf, kamen auch die ersten Besucher einer Hochzeitsgesellschaft. Und der Chor übte ein Halleluja.

Um die Kirche herum ist ein wunderschöner Christusgarten angelegt. Verschiedene Themenstationen mit einem Impuls aus der Bibel. Wunderschön. Und viele Impulse sind mir in diesem Jahr schon begegnet und haben eine Geschichte. Perfekter hätte es nicht anfangen können.

Im weiteren Verlauf musste ich Lehrgeld als Pilgerneuling bezahlen. Ich habe die Schilder nicht immer verstanden und mit meinem GPS stand ich auch auf Kriegsfuß. So habe ich einige Kilometer umsonst gedreht. Um 17.00 war ich fast am Ausgangspunkt angelangt. Vollends zurück nach Harpstedt und mit dem Bus zurück nach Wildeshausen?

Kommt nicht in die Tüte. Ich lasse mich doch nicht gleich am Anfang unterkriegen. Entschlossen ging ich zurück und an der Wegbiegung mit 3 Möglichkeiten nahm ich diesmal diejenige, die ich noch nicht ausprobiert hatte. Die war dann richtig.

Der Weg war wunderschön durch den Wald. Ich bin froh, dass ich nur mit kleinem Gepäck unterwegs war. Morgen kann ich mir das mit meinem 14 kg Rucksack nicht erlauben.

Am Ende hatte mein Tageskilometerzähler 25 km. Meine Füße brennen.

Jakobsmuschel