Lieber Luther,
ich schicke dir unten die Karfreitagspredigt, die ich letztes Jahr gehört habe. Es ist eine Predigt, von einem der weiß, was Karfreitag heißt. Ich werde sie mit Sicherheit mein ganzes Leben nicht vergessen, so eingebrannt hat sie sich in mir.
Was Karfreitag heißt, dem muss man sich erst einmal stellen und den Mut haben, dies auch noch zu äußern. Die Predigt so an Karfreitag zu halten, hat Mut und Kraft gekostet. Ich bin bis heute dankbar, dass ich sie hören durfte, obwohl sie mich fast zerlegt hat und ich sie bis heute kaum ertragen kann. Aber genau das ist Karfreitag: Man kann das Geschehen bis heute kaum ertragen.
Es ist eine Karfreitagspredigt, die dort hingeht, wo es schmerzt, ans Kreuz. Sie soll deshalb nicht vergessen sein.
Liebe Schwestern, liebe Brüder,
Wo ist hier Gott? – seit Jahrtausenden hallt diese Frage über unsere Erde – gesprochen von schreienden und klagenden Lippen aus verzweifelten und verstummten Herzen.
Wo ist hier Gott? – diese Frage lässt die kostbaren Vorhänge unseres Glaubens zerreißen, wenn wir uns mit den Abgründen menschlichen Handelns und Verhaltens konfrontiert sehen, oder wenn wir fassungslos in eine menschliche Tragödie hineingeworfen sind.
Wo ist hier Gott? – Das ist auch die Karfreitagsfrage schlechthin.
In seinem Buch „Die Nacht zu begraben“ hat der jüdische Schriftsteller Elie Wiesel, selbst ein Überlebender des Holocaust, dieser Frage ein Gesicht gegeben – ein Kindergesicht.
Er berichtet darin von einer Exekution. Er schreibt:
„Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich.
Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit.
Der Lagerchef verlas das Urteil gegen zwei Männer und ein Kind.
Alle Augen waren auf das Kind gerichtet.
Es war aschfahl, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz.
Drei SS-Männer dienten als Henker.
Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt.
„Es lebe die Freiheit!“ riefen die beiden Erwachsenen.
Das Kind schwieg.
„Wo ist Gott, wo ist er?“ fragte jemand hinter mir.
Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um.
Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager.
Am Horizont ging die Sonne unter.
„Mützen ab!“ brüllte der Lagerchef.
Seine Stimme klang heiser.
Wir weinten.
„Mützen auf!“
Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus.
Aber der dritte Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch …
Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf.
Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen.
Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt, seine Zunge war rot, seine Augen noch nicht erloschen.
Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: „wo ist Gott?“
Und ich hörte eine Stimme in mir antworten:
„Wo ist er? Dort – dort hängt er am Galgen …“
Dort hängt er – am Galgen.
Ja, das ist die Antwort des Karfreitags auf die Frage nach der Anwesenheit Gottes unter uns Menschen.
Es ist die abgründigste Antwort, die es auf die Frage, „Wo ist hier Gott?“ überhaupt geben kann.
Ohne diese Antwort als abgründiger Hintergrund wird jeder Tabernakel zum goldenen Kalb.
Es ist wunderschön und ergreifend, Gott loben und danken zu dürfen und zu können, wenn wir voller Glück sind.
Es ist erhebend, ihn zu erfahren inmitten seiner Natur, beim Spiel der Wolken, im Konzert der Vögel und in der Sinfonie der Schöpfung.
Es ist anerkennenswert, ihm durch die regelmäßige Erfüllung der religiösen Pflichten die Ehre zu erweisen.
Es ist einfach, sich diese Frage gar nicht zu stellen und das Leben als von selbst verständlich zu nehmen, ohne dabei Gedanken an einen göttlichen Schöpfer zu bekommen.
Wo ist hier Gott?! – diese Frage halte ich für das große Vermächtnis des jüdischen Volkes an die Menschheit.
In keinem anderen Volk wurde diese Frage so leidenschaftlich gestellt.
In keinem anderen Volk wurden so unterschiedliche und oft auch widersprüchliche Antworten auf sie gefunden.
Die Gottesknechtslieder bei Jesaja, die bereits ein paar Jahrhunderte vor Jesus geschrieben wurden, zeigen Antwortahnungen.
Im vierten Lied vom Gottesknecht, das wir gerade als erste Lesung gehört haben, leuchtet die Erkenntnis durch, auf welcher menschlichen Seite Gott wirklich steht.
In seinem Brief an das jüdische Volk sieht der Verfasser des Hebräerbriefes die leidenschaftliche Solidarität Gottes mit den Menschen im Lebens- und Leidensweg Jesu auf den Punkt gebracht und verdichtet.
In Jesus hält Gott sich weder vom menschlichen Zweifel, noch von seinen Versuchungen, noch von den menschlichen Schwächen und Schmerzen und Hoffnungslosigkeiten fern.
Gott hält sich die menschliche Not nicht vom Leib.
Gott hält sich auch unsere Schmerzen nicht vom Leib.
Gott hält sich auch unsere Ohnmacht nicht vom Leib.
In Jesus hält Gott all das aus.
In Jesus ist er nicht nur solidarisch mit unserer Not.
Er stellt sich nicht nur auf die Seite der Notleidenden und Verzweifelten.
Er wird selber zum Notleidenden und Verzweifelten.
Hier ist er zu finden. Genau hier.
Im fassungslosen Abgrund der menschlichen Ohnmacht.
Im zugeschnürten Herzen angesichts der unmenschlichen Möglichkeiten und Taten so vieler Einflussreicher und Mächtiger quer durch alle Generationen und Kulturen.
Wo ist hier Gott? –
Mitten drin.
Mitten im Leid. Mitten im Schmerz.
Aber auch: Mitten in Deinem Leid. Mitten in Deinem Schmerz.
Mitten in meinem Leid. Mitten in meinem Schmerz.
Nicht als strafender Richter.
Nicht als willfähriger Henker.
Nicht als Zuschauer.
Nicht mal als Besucher.
Sondern er ist da als Schrei eines jeden Menschen,
als Tränen, als Gebet, als Bitte.
Gott ist da als mein Schrei, als meine Tränen, als mein Gebet, als meine Bitte.
In Jesus hat Gott durch Leiden hindurch Gehorsam gelernt! heißt es im Hebräerbrief.
Das ist der Grund des ewigen Heils.
Es ist seine Ohnmacht, die uns heilt, nicht seine Allmacht.
Gott weiß nicht nur um das Leid, er hat nicht nur Mitleid mit den Leidenden,
er leidet es selbst mit.
Das ist die ungeheuerliche Botschaft des Karfreitags, liebe Schwestern, liebe Brüder.
Hier, mitten drin, mitten drin im Leid, also auch mitten drin in unserem eigenen Leid leuchtet uns das Angesicht Gottes auf – und dadurch werden wir nicht nur, sondern sind wir heil.
Dies glauben zu lernen – durch allen Zweifel und alle Verzweiflung hindurch – ist das Vermächtnis, das weiterzutragen und in die Welt zu leben uns Christen aufgegeben ist.
Mitten drin im Leid unserer großen und auch unserer kleinen Welt leidet und hofft und bangt Gott selber mit.
Er lässt sich den Schmerz unter die eigne Haut gehen.
Als Jesus beim Tod seines Freundes Lazarus die verzweifelten Angehörigen sah fuhr es ihm, wie es wörtlich übersetzt heißt, in die Eingeweide.
Er kann wirklich mitfühlen bei unserem Protestschrei gegen den Tod.
Ja, er betet und bittet selber mit lautem Schreien und unter Tränen.
Cool bleiben ist seine Sache nicht.
Sich den Schmerz fern halten auch nicht.
Auch wenn uns die eben als Evangelium gehörte Leidensgeschichte nach Johannes Jesus als den zeigt, der aufrecht, entschlossen und würdevoll, ja schon göttlich entrückt den Weg des Kreuzes zu Ende ging.
Hier bei Johannes erkennen wir Jesus als den göttlich Wissenden.
Da scheint das Menschliche an Jesus etwas übergeblendet zu sein.
Aber wir dürfen gewiss sein, dass ihm nichts Menschliches fremd ist – auch nicht das Allzumenschliche.
Und auch, dass er sich selbst das Unmenschliche antun lässt.
Das ist seine Antwort auf die Frage: Wo ist hier Gott?
Mitten drin, mitten drin im Leid,
auch mitten drin in unserem eigenen Leid leuchtet uns in Jesus das Angesicht Gottes auf – und dadurch sind wir heil.
Möge dies zu unserer Gewissheit werden –
und unser Leben prägen.
Amen.
(P. Jonathan Düring OSB, Predigt zu Karfreitag 2012)
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