Es gibt viele Menschen, die haben Angst vor dem Tod oder denken, nach dem Tod ist das Nichts. Sie fragen nach „Beweisen“, dass es ein Leben nach dem Tod gibt.
Ich möchte eine Geschichte erzählen, eine Geschichte von einer Frau, deren Sterben Hoffnung geben kann. Sie kann zeigen, wie der Glaube die Angst vor dem Sterben heilen kann. Es ist die Geschichte von Beate. Ich bin sicher, es ist in ihrem Sinne, dass ich sie erzähle, da sie vielleicht dem ein oder anderen eine Hilfestellung ist.
Es ist Karwoche, immer eine dichte Zeit, in der Gottes Gegenwart besonders zu erfahren ist.
Ich stehe in der Auffahrt des Klosters als zu meiner Überraschung Beate mit dem Taxi vorfährt. Ich warte bis sie bezahlt hat und aussteigt. Beate ist klein und zierlich. Als ich sie in den Arm nehme, erschrecke ich. Sie ist nur noch Haut und Knochen, so richtig drücken mag ich sie gar nicht, ich habe Angst, sie zu zerbrechen. Wir freuen uns beide sehr, denn wir hätten beide nicht gedacht, dass wir uns noch einmal wiedersehen.
Beate ist schwer krank. Sie hat Krebs. Erst vergangenen August war es festgestellt worden. Im Dezember wäre sie fast schon gestorben. Aber sie war noch nicht bereit, noch nicht. An Neujahr schickte ich ihr ein Päckchen mit lauter kleinen Sächelchen, von denen ich wusste dass Beate sich daran festhalten konnte: einen Haselzweig, einen Stein, einen Ast, ein paar getrocknete Blätter, am Ast getrocknete Wildbeeren, Bibelversbonbons und andere Kleinigkeiten, auf die mein Auge vor dem Kloster gefallen war. Sie werden ihr Kraft geben, dachte ich, sie kommen von einem Ort, den wir beide als Kraftort empfinden. Ich brauchte einen ganzen Tag, um den Brief an sie zu schreiben. Was schreibt man einer Frau, die auf Abruf lebt? Kneifen wollte ich nicht.
Beate ist zäh und will noch nicht sterben. Ich verstehe das zwar nicht so ganz, wieso sie so eisern kämpft. Sie weiß doch auch, dass, wo sie hingeht, kein Schmerz mehr ist. So schreibe ich ihr, dass jeder den Weg bergauf in seinem eigenen Tempo gehen muss, zwischendrin vielleicht in ein Gewitter kommt oder sich ausruhen muss. Wenn du irgendwann oben ankommst, Beate, da bin ich ganz sicher, wartet eine warme Stube auf dich. Gute Reise Beate.
Und nun steht sie tatsächlich vor mir. Sie ist immer noch unterwegs nach oben. Wir gehen den Weg zum Kloster hinauf, zwischendrin muss sie anhalten, um Atem zu schöpfen. Sie ist schwach, hat aber eine Willensstärke, die man ihr auf den ersten Blick nicht zutrauen würde.
An Karfreitag gehen wir gemeinsam den Kreuzweg durch den Wald. Ich hake sie unter. An den verschiedenen Stationen singen wir aus einem Blatt. Den Impulstext überlässt sie mir achtlos. Ich spüre, solcher Art Dinge sind nicht mehr wichtig für sie. Sie feiert zum letzten Mal Karfreitag. Sie weiß es und ich weiß es.
Der Ostersonntag ist ein wunderschöner Frühlingstag. Strahlend blauer Himmel. Ich setze mich mit Beate auf die Wiese, wir lassen uns von der Sonne bescheinen und schauen den Menschen zu, die sich um das Kloster tummeln.
Beate erzählt und sagt, wir seien Seelenverwandte. Da fasse ich Mut und frage sie: Beate, wie ist es, wenn man stirbt? Wie ist das, wenn man schon für tot gehalten wird? Was passiert da? Und Beate erzählt.
Sie erzählt von der Achtlosigkeit der Menschen, die sich darüber unterhalten, dass sie tot ist. Man schwebe quasi über der Szenerie. Sie sieht und hört die Menschen von ihrem Tod reden. Sie findet das unglaublich. Der Widerspruch liegt auf ihren stummen Lippen. Schon das allein hält sie im Leben. Ich spüre ihre Empörung.
Ich löchere sie mit Fragen, ich will mein inneres Wissen mit dem abgleichen, was sie erfahren hat und sie gibt bereitwillig Auskunft, wir gleichen gemeinsam ab.
Sie erzählt davon, wie vor einem das eigene Leben wie ein Film abläuft, das Gute, das Böse, die Missetaten. Das sei heftig, sagt sie. Es sei kein Strafgericht, aber man muss sich alles ansehen. Man erschrickt vor sich selber. Sie hat keine Angst empfunden, eher ein schonungsloses wahrheitsgemäßes sich ins eigene Antlitz blicken, in die eigene Seele. Sich ungeschönt zu sehen, ist nicht unbedingt schön. Kein Vorwurf von irgendwem. Man muss vor sich selbst Rechenschaft ziehen. Und das Maß ist die ungeschönte Wahrheit. Das ist das Reinigungsbad, durch das uns Gott schickt, sein „Gericht“ ist unser eigenes Gericht über uns selbst.
Dann erzählt sie etwas, was mir neu ist: Sie sagt, man bleibe zusammen, man bleibe ganz. Man verliere alles Menschliche, die Person, aber das Wissen von sich als Ganzem bleibe erhalten. Ich wusste sofort, das war der Baustein, der mir gefehlt hatte. Das lässt mich zu meinem Vater, zu meinem Schöpfer gehen als „mich“. Ich löse mich nicht auf, ich bleibe – irgendwie – erhalten.
Als wir uns trennen, sind wir beide aufgewühlt. Es war das letzte Mal, dass ich Beate gesehen habe.
Die folgenden Wochen hatte sie noch ihr Leben aufzuräumen, begleitet, auch geistlich begleitet, von Einem, dem sie vertraut hat, der ihr geholfen hat, das loszuwerden, das sie bisher noch festgehalten hat.
Beate hat sich sorgfältig auf ihren Tod vorbereitet, Kerzen bastelnd, Engel malend. Sie hat bestimmt, was auf ihrem Sterbekärtchen stehen sollte. Auf dem Bild, das sie lächelnd kurz vor ihrem Tod zeigt, sieht man in ihren Augen schon den Glanz und das Leuchten der Ewigkeit. Jetzt war sie bereit.
Als der Augenblick ihres Sterbens da war, haben sich, wie von ihr erbeten, die Schwestern und Ärzte um ihr Bett versammelt, ihre selbstgebastelten Kerzen angezündet und das Lied gesungen, das sie hierfür ausgesucht hatte. Als es verklungen war, war sie auf dem Gipfel des Zionsberges angelangt und ihrem Schöpfer in die Arme gesunken.
Das letzte Stück ist sie leicht gegangen, ohne Schmerzmittel, das Ziel vor Augen, bereit loszulassen, den letzten Schritt zu tun, ohne Angst. Beate wusste, dass sie nicht ins Nichts geht. In Beate war ein Wissen von Gott, ein tiefer Glaube, ein starkes Vertrauen in Gott. Beate wurde 49 Jahre alt.
Beate ist in einem ganz normalen Krankenhaus gestorben. Die Ärzte und Schwestern haben ihren letzten Willen respektiert und sie tatsächlich hinüber in ihr neues Leben gesungen. Gegenwärtiger kann Gott nicht sein. Deshalb habe ich von Beates Leben und wunderbarem Sterben erzählt. Damit wir an ihr lernen. Das gibt ihrem Sterben einen Sinn.
Ich höre, wie sie zustimmt und lacht, ein strahlendes, alles überwindendes Lachen von dort, wo auch ich hingehen werde.

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