Lasst uns über die Opfer reden und gebt den Tätern nicht den Raum. Was heißt es Opfer zu sein? Ich berichte hier vom wahren Leben.
Bei uns in der Abteilung wurde eine Mitarbeiterin vermisst nach dem Attentat in Nizza. Ein 20jähriges Mädchen, aus Russland, das bei uns ein Praktikum gemacht hat. Ein fröhliches und sehr nettes Mädchen mit langen blonden Wuschelhaaren. Sie war spurlos verschwunden. Der Vater hat sie auch vermisst, so kam er aus Russland angereist, kein Englisch, kein Französisch, nur Russisch. Seine Anfrage an die französische Polizei blieb unbeantwortet. Alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihn zu unterstützen. Die Belegschaft zwischen Hoffen und Bangen. Man tat, was man konnte, um die Mitarbeiter in dieser schwierigen Situation zu unterstützen.
Dann kam die Nachricht. Sie ist tot. So einfach schreibt sich das. So brutal. Der Tod saß auf dem Stuhl neben uns. Sie war nur noch mit DNA identifizierbar, so zerstört war sie. Deshalb hat es solange gedauert, bis Klarheit herrschte. Die Unklarheit ist noch schlimmer als die fürchterliche Wahrheit. Alle wie gelähmt. Den Raum, in dem die Nachricht verkündet wurde, verließen fast alle weinend. Psychologische Hilfe ist angeboten, für den, der sie in Anspruch nehmen will. Jeder kann nach Hause gehen, der es braucht. Jeder verarbeitet anders. Für ein paar Tage relativiert sich das, was im Berufsalltag für wichtig gehalten wird.
Ich sage meinen Mitarbeitern, wer ein Problem hat, kann gern zu mir kommen. Und tatsächlich kommt eine Mitarbeiterin. Sie will nicht, dass es alle wissen. Aber ihr Vater war auch in Nizza, auch er im Krankenhaus und verletzt. Sie will ihre äußerliche Unverletztheit bewahren, den Schein wahren, ja nicht darauf angesprochen werden. Auch für sie mit ihren Mitte 20 starker Tobak. Dieser enge Kontakt mit dem Tod ist für die meist jungen Menschen in unserer Abteilung neu. Sie sieht bleich aus. Nein, sie will lieber arbeiten. Anderntags fehlt sie doch.
Eine weitere Mitarbeiterin von mir, die mit dem toten Mädchen befreundet war, ist immer nahe den Tränen. „Man kann nirgends mehr sicher sein“, das ist, was sie beschäftigt. Sie hat ein kleines Kind. Sie sage von nun an immer Bescheid, wohin sie gehe, damit …. falls, jeder weiß wo sie ist (oder war). Man hat ja gesehen, wie furchtbar diese Ungewissheit ist. Sie erzählt mir, dass diesen Morgen ein weiteres Unglück passiert sei. In einer Feriensiedlung. Eine Frau mit 2 Töchtern und im Ferienbungalow nebenan eine muslimische Familie. Der Mann stört sich daran, dass die Frauen im Nebenbungalow im Bikini um ihren Pool liegen. Das gehöre sich nicht. Die Frauen lassen sich nicht einschüchtern. Anderntags hat er alle 3 Frauen mit dem Messer abgeschlachtet. Freiwild zuhause zu sein, damit kommen viele nicht klar. Jeden Tag verweinte Gesichter. Sie verstört das verlorene Sicherheitsgefühl. Man müsse sich, sagt sie, darauf einstellen, dass man nirgends mehr sicher ist. Und heute musste sie nach Marseille. Sie sagte es allen, nur für den Fall… Sie ist nicht gern gefahren, die Angst ist mitgereist. Der Verlust des Sicherheitsgefühls, der Unbeschwertheit, wiegt schwerer als der Tod der Kollegin.
Die Attentäter haben nicht nur die 87 Todesopfer auf dem Gewissen, sagt sie. Jeder Tote hat mindestens 30 Angehörige. Das addiert sich. Keiner spricht von diesen traumatisierten Hinterbliebenen. Man gibt den Tätern viel Aufmerksamkeit. Was sie über die direkt Ermordeten hinaus anrichten, ist wenig spektakulär und taugt für Schlagzeilen nicht. Über die Tausende umgebrachter Angehöriger schweigt man hinweg, als gäbe es sie nicht. Die Traumatisierten, die Lebens-Verunsicherten sind die wahren Opfer. Tot ist tot. Den Toten schert das nicht. Ich habe einen starken Glauben, sage ich zu jedem, mit dem ich spreche. Ich glaube, dass die Kollegin jetzt in einer besseren Welt ist. Die Hinterbliebenen sind die wahren Opfer. Die Traumatisierten. Die Verunsicherten. Sie müssen mit diesem Tod leben. Sie sind die wahren lebend Umgebrachten.
Auch meine Mitarbeiterin, mit ihrer deutschen Chefin, denkt, die Deutschen haben diese Entwicklung zum Bösen befördert, mit ihren offenen Grenzen, mit ihrer Politik. Das habe viele ermutigt, ihren persönlichen Kampf gegen die Ungläubigen aufzunehmen. Die Schläfer sind geweckt. Das Halali zur Jagd ist geblasen und nicht mehr in den Griff zu kriegen. Der Damm ist gebrochen. Keine organisierte Guerilla, die sich eventuell noch kontrollieren lässt. Eine Organisation ist kontrollierbar, aber nicht Nichtorganisierte. Die Scharfmacher haben das kapiert. Unsere Politiker und Schönredner bis heute nicht. Nein, es sind nun Individuen, die ihren persönlichen Krieg führen, die einen Freifahrschein ins Himmelreich von ihren Anführern haben, wenn sie Andersgläubige umbringen. Das ist von keiner Polizei der Welt mehr zu kontrollieren. Die Situation ist – nicht wirklich überraschend – außer Kontrolle geraten. Es wird in Feriensiedlungen, in Zügen, in Kneipen, auf Massenveranstaltungen wahllos und in immer höherem Tempo gemordet. Jeden Tag woanders. Das Blut trieft aus den Nachrichten-, Sondersendungen und Talkshows. Dazwischen die immer gleichen Betroffenheitsparolen der Politiker und Medien, die keiner mehr hören kann. Es war abzusehen, auch wenn es bis jetzt viele immer noch nicht einsehen wollen. Keiner kann sich beschweren. Wir alle haben es zugelassen, dass es so kommt. Wir stehen erst am Anfang der Abfahrt in die Hölle. Und wir schauen weiterhin zu, wie sich die Fahrt beschleunigt.
Was ich auch noch nicht wusste bisher, aber in dieser schmerzlichen Zeit ans Tageslicht kam. Die Tochter einer weiteren Mitarbeiterin, die in Paris lebt, war in der Wohnung über dem Lokal, in dem einer der Pariser Anschläge stattfand. Normalerweise wäre sie unten gewesen. Ein Schutzengel hat sie gerettet.
Alles weit weg? Nein, hautnah da. In München heißt es inzwischen: Nicht auf die Straße gehen, es ist zu gefährlich. Die Täter lauern irgendwo. Nicht nur meine französische Kollegin sorgt für den Fall vor, auch ich. Ich fange an, meinen Kindern Verhaltensregeln anzuempfehlen, damit sie nicht offenen Auges in ein offenes Messer oder eine erhobene Axt rennen. Soweit sind wir mittlerweile. Opfer sind wir alle.

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