Scheideweg

Wir trafen uns zufällig, beim Arzt. „Dich treffe ich hier sonst nicht, sondern nur meine Sangesbrüder“, meinte er lachend. Dann fuhr er sich mit der Hand durch das nicht vorhandene Haar: „Die sind weg“. „Habe ich schon gesehen“. „Und als nächstes ist der dran“ und er zeigte auf seinen Schnauzer, „Ich habe Krebs“.
Er ist ein großer, gutaussehender, stattlicher Mann, selbst jetzt noch, wo er nur noch die Hälfte dessen ist, was er war, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, unter seinem linken Ohr eine lange Naht. „Zungenwurzelkrebs“. „Noch nie gehört“. „Ich vorher auch nicht“. „Machst du Chemo?“. „Bin ich schon durch, seit Februar bin ich zugange.“ Dann erzählt er in wenigen Worten von den Qualen der Chemo. „Und jetzt?“. „Sie sagen, sie hätten alles rausgeschnitten. Ab Donnerstag muss ich zur Bestrahlung, 7 Wochen. Ich habe den Beipackzettel gelesen, er ist lang“ und er zeigt mir in einer ausladenden Handbewegung, wie lang. „Wieso Bestrahlung, wenn sie sagen, alles ist raus?“ „Habe ich auch gefragt. Sie sagen, sonst fangen die Metastasen an zu leben und ich sitze in 8 Wochen wieder mit riesigen Geschwüren bei ihnen.“ „Mit der Begründung lassen sie dir ja nicht viel Wahl.“
Ich schaue ihn an. Die Hose wird nur noch durch den Gürtel gehalten. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes nur noch Haut und Knochen. Wie soll er das durchstehen, mit was? Er hat rein körperlich keinerlei Reserven mehr. „Mein Schwager“, sagt er, „hat die 5 Jahre voll gekriegt.“ Ich schaue ihn fragend an. „Er hatte Lungenkrebs und sie geben eine Prognose von 5 Jahren Überlebenschance“. Er grinst mich an: „Als wir noch 40 waren, haben wir gesagt, die alten Säcke mit 70, ihre Zeit ist da“, meint er lachend und es wirkt nicht aufgesetzt, eher verwundert, dass das jetzt auf ihn schon zutrifft. Jetzt, in der Gegenwart, nicht in einer unbestimmten, aufschiebbaren Zukunft. „Entweder die Bestrahlung schlägt an, oder …“, er beendet den Satz nicht. „Ich bin nicht sicher, ob es wünschenswert ist, 105 zu werden“, meine ich. Er sagt: „Ein Freund hat mal zu mir gesagt, jeder will alt werden, aber alt werden will keiner. Ich will dir erzählen, wie es mir ergangen ist, während der Bestrahlung. Wenn es vorbei ist.“ „Mok wi so.“ In einem gleichgerichteten Impuls umarmen wir uns. Alles gesagt für jetzt. Er geht davon. Keiner von uns ist weinerlich, sondern dem ins Auge sehend, was kommt, unabänderlich. Wir ahnen beide, dass dies ein Abschied gewesen sein könnte.
Wieso erzähle ich das? Ich habe keine Angst vor dem Sterben, weil Sterben ein Heilsgeschehen ist. Sterben führt uns zurück zu Gott und macht uns wieder vollkommen heil. Ich habe hier schon öfters von Abschieden und vom Sterben berichtet, immer gelungenem Sterben. Alle Menschen, die ich bisher in ihrem Sterben irgendwie begleiten durfte, sind gelungen gestorben. So wünsche ich sehr, dass auch dieser Freund gelungen stirbt, wann immer der Augenblick da ist. Was kann ich für ihn tun?
Alles ist vorgedacht und vorgezeichnet. Schon, dass wir uns begegnet sind, an einem Ort, an dem die Wahrscheinlichkeit, mich zu treffen, äußerst gering ist. Wir sind uns begegnet, weil ich viel für ihn tun kann. Wesentlich mehr für sein Leben, als alle Ärzte zusammen. Ich kann für ihn beten. Das ist wichtiger für ihn, als alle medizinischen Maßnahmen zusammen. Das ist etwas, was er nicht selbst für sich kann. Letzten Herbst ist er, auch das vorausschauende Fügung, wieder in die Kirche eingetreten, weil seine Frau ihn einmal mit kirchlichem Segen begraben will, so hat er mir vor ein paar Monaten erzählt. Von Krebs wussten sie damals noch nichts, sie dachten eher an sein Herzleiden.
Ich glaube an die Macht von Gottes Fügungen und ich glaube an die Macht des Gebetes. Ich habe beides schon oft erfahren, auch darüber habe ich schon mehrmals berichtet. Ich berichte, weil ich ermutigen will. Derjenige, der beten kann, kann beten für die Handvoll, die ihm gegeben ist. Wenn jeder dies tun würde, würde es weniger Leiden im Sterben und mehr gelungenes Sterben geben, davon bin ich absolut überzeugt. Man kann denen helfen, die selbst in ihrer Beziehung zu Gott verloren sind, keinen Zugang finden und keine Öffnung im Sterben. Man kann an ihre Stelle treten und für sie bitten, für sie anklopfen sozusagen. Ich bitte nicht, HERR, mach ihn gesund, ich bete:
HERR, ich befehle ihn in deine Hände,
dein Wille geschehe,
bewahre ihn,
führe ihn auf einen Weg,
der für ihn der beste ist,
bereite deine schützenden Flügel um ihn.
Ich bitte um einen Weg,
wie immer der aussehen mag,
der ihm am wenigsten Leiden verursacht.
Schicke ihm, wenn die Zeit da ist,
einen Engel entgegen, der ihn an der Hand nimmt
und ihn zu dir führt.
HERR, hilf.
HERR, erbarme dich.
HERR, auf dich vertraue ich.
AMEN.

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