Lieber Luther,
manchmal trifft einen etwas tief. Das ist mir mit der Tageslosung vom letzten Samstag passiert:
Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
Jesaja 53,3
Ich bin immer noch über sie erschüttert. Das Entsetzen über uns selbst, unsere Mitleidlosigkeit, das Mitleid mit dem Gepeinigten hat mich erfasst. Wie konnten wir nur, wie können wir nur, wieso immer wieder?
Die Bibelstelle steht im Zusammenhang mit den Gottesknecht-Liedern bei Jesaja.
Umsonst habe ich mich abgemüht, sagt der Gottesknecht, vergeblich und für nichts meine Kraft verbraucht, aber mein Recht ist beim Herrn und mein Lohn bei Gott (Jes 49, 4). Wer in Finsternis lebt und wem kein Lichtglanz (scheint), vertraue auf den Namen des Herrn und stütze sich auf seinen Gott (Jes 50, 10).
Wach auf, wach auf. Ich bin es, der euch tröstet. Wer bist du, dass du dich vor dem Menschen fürchtest, dass du den Herrn vergisst, dass du dich den ganzen Tag vor dem Bedränger fürchtest, wenn er zielt, um dich zu vernichten. Ich habe meine Worte in deinen Mund gelegt und dich bedeckt mit dem Schatten meiner Hand, um den Himmel aufzuschlagen und die Grundmauern der Erde zu legen und zu Zion zu sagen: Mein Volk bist du (Jes 50, 9-16). Siehe ich nehme aus deiner Hand den Taumelbecher, den Kelch, den Becher des Zorns; du wirst ihn nicht mehr länger trinken. Ich gebe ihn in die Hand deiner Peiniger, die zu deiner Seele sagten: Bück dich, dass wir hinüberschreiten! (Jes. 51, 23).
Wach auf, wach auf. Schüttle den Staub von dir ab, mach dich los von den Fesseln, die um deinen Hals liegen. Umsonst seid ihr verkauft worden und nicht für Geld sollt ihr gelöst werden. (Jes 52, 3), sondern durch den wahren Knecht Gottes (Jes 52-53):
Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt war sein Aussehen. An wem ist der Arm Gottes offenbar geworden? Er ist wie ein Trieb vor ihm aufgeschossen, wie ein Wurzelspross auf dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und keine Pracht, sondern ein Aussehen, an dem wir kein Gefallen finden konnten und können. Er war verachtet, von den Menschen verlassen, ein Mensch, der Schmerz, Leid, Kummer und Krankheit wohl kennt, jemand, bei dem man wegsieht, sein Gesicht verbirgt, ihn nicht ansehen will, auf die andere Straßenseite geht, wenn er daherkommt. Er war verachtet, wir haben ihn nicht geachtet. Jesus, unser Löser. Jesus jenseits aller Schönfärberei.
Er hat unsere Krankheiten getragen, unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir hielten und halten ihn für Gott bestraft, aber wir waren es, die ihn züchtigten und an dem sich unsere ganze Bösartigkeit ausgelassen hat. Er hat es stumm geduldet, hingenommen, um uns zu zeigen, dass Gott mit uns Frieden will, auch wenn wir viel Unrecht auf uns laden. Seine Striemen, sie zu dulden und fortgesetzt zu erdulden, sind unsere Heilung, unsere Verzeihung. Verzeihung von unserem Hass und unseren Ungerechtigkeiten, von unserem einander krank machenden Handeln, von unserem Selbstmitleid.
Weil er, seine Seele, diese – unsere – Mühsal auf sich genommen hat, wird diese Er-Duldsamkeit das Leben seiner Seele über den Tod hinaus verlängern und viel Frucht tragen. Durch sein Wissen, seine Erkenntnis, seine Demut, sein Für-uns-durch-uns-hindurch-gehen, wird er vielen zur Gerechtigkeit verhelfen, indem er voran geht.
Wach auf, wach auf. Sein erkennendes, vorausschauendes Handeln soll uns als Richtschnur und Maßstab dienen. Er hat Mensch-Sein, Mensch-Aushalten getragen, Gottes Schöpfung, wie sie sich neben Gott gestellt hat, anstatt unter ihn, ertragen mit allen – auch für Gott – bitteren Konsequenzen. Mensch, ist die Botschaft, folge mir nach und halte das Mensch-Sein aus, so wie du es lebst, in Krankheit, in Schmerzen, in Kummer, in Leid. Tu es mit Demut, ertrage, wie ich ertragen habe. Wacht auf aus eurem Selbstmitleid und folgt mir nach. All das hat schon Jesaja gesehen.
Wieso also, lieber Luther, hat mich dieser Losungssatz so getroffen? Es war ein Weckruf. Wach auf. Er war so verachtet, dass man sein Gesicht von ihm wegdrehte. Wer nicht hinschaut, sieht nicht, was er sehen sollte. Wegschauen heißt, das Herz verschließen, der Angst vor dem Hinschauen und den Konsequenzen ausweichen. Lieber Luther, ich glaube, ich bin zutiefst am Mensch-Sein erschrocken, am Hinschauen, und der Schmerz darüber, über die Natur des Menschen, ist durch mich hindurch gegangen. Manchmal – gott-sei-dank nicht so oft – fließt der Schmerz der Welt durch mich hindurch und hinterlässt eine unendlich tiefe Spur der Trauer.
Aber, lieber Luther, Jesaja sollte mich aufwecken, aufschrecken: Wach auf, wach auf, ich bin es, der euch tröstet. Steh auf von deiner Ruhebank, nimm deinen Wanderstab und geh weiter. Der Satz wirkt wie ein Energie gebendes Wundermittel.
Herzliche Grüße
Deborrah