Vom Sterben reden wir nicht gerne. Am besten würden wir es verdrängen, vergessen, totschweigen. Schon gar nicht an Weihnachten. Ich rede vom Sterben, ich habe es schon öfters hier in dem Blog getan, etwa als ich von Beates Sterben erzählt habe.
Viele Menschen haben Angst, einen wahren Horror vor dem Sterben oder dem Tod, was nicht das Gleiche ist, aber das sei hier dahingestellt. Mein Vater ist heute gestorben. Er war einer, der nicht vom Sterben reden wollte, Er wollte auch im Leben keine Menschen besuchen, die im Sterben lagen oder schwer krank waren. Darin ist er sich treu geblieben bis zum Ende. Keinen Besuch. Bis auf mich. Auf mich hat er noch gewartet.
Tod, wo ist dein Stachel? Ich will erzählen, wie er gestorben ist, um Mut zu machen, Mut, die Angst vor dem Sterben zu lassen, das Tabu wegzunehmen, den Tod anzunehmen, das Sterben zu leben, im Leben denjenigen sterben zu lassen, für den die Zeit gekommen ist. Den Tod als Teil des Lebens zu nehmen. Den Tod als Anfang eines neuen Lebens zu nehmen.
Mein Vater ist zu Hause gestorben, in dem Haus, in dem er und auch ich geboren bin. Krankenhaus und Ärzte waren ihm ein Gräuel. Er wurde hingebungsvoll gepflegt von meiner Schwägerin. Das war nicht selbstverständlich. Sie hat Jahrzehnte unter ihm gelitten. Als sie ihn immer hilfloser werden sah, hat dies ihr Herz gerührt. Sie hat nicht nachgetragen. Sie hat ihn nicht ins Krankenhaus oder ins Pflegeheim abgeschoben, sie hat ihr Herz geöffnet, sich von seiner Hilflosigkeit berühren lassen, ihren Frieden mit ihm gemacht und sich ihm liebevoll zugewendet. Das nennt man wohl Vergebung oder auch Nächstenliebe.
In dem Haus leben 4 Generationen zusammen, eine Großfamilie mit viel Kommen und Gehen, viel Aus und Ein. Eine Bauernfamilie. Still ist es die ganze Nacht nicht. Irgendjemand ist immer am Kommen oder Gehen. Es geht laut, manchmal auch für mein Gefühl roh, aber herzlich und ehrlich zu. Die Tür zum Zimmer meines Vaters war unter Tags in der Regel einen Spalt offen. Er hat bis zuletzt Teil genommen am Leben der Familie. Zunächst habe ich gedacht, könnten sie nicht mehr Rücksicht nehmen? Dann ist mir aber klar geworden, dass gerade diese Normalität ihn birgt. Er kennt die Stimmen aller Familienmitglieder, vielleicht die der wechselnden Freundinnen der Enkel nicht. Einmal hat er mich nach einer solchen ihm unbekannten Stimme gefragt. Er war im Kopf ganz klar, so klar wie in den letzten 2 Jahren nicht. Meine Anwesenheit hat ihm nochmals einen letzten Lebensschub gegeben.
Als ich so an seinem Bett saß, hat sich mir der Sinn von „werdet wie die Kinder“ erschlossen. Am Lebensende kann man hilfloser sein als ein neugeborenes Kind. Das kann wenigstens noch schreien. Sterbenden fehlt die Kraft und die Stimme dazu. Es geht nichts mehr, die Körperfunktionen sind außer Kontrolle, kein Eigensinn, keine Bosheit oder Bösartigkeit, alles muss abgegeben werden, auch die Würde und das Schamgefühl. Zum Vorschein kommt der reine Mensch. Der reine Kern der Seele. Bescheidenheit, Dankbarkeit und Anerkennung der Zuwendung. Mein Vater hat noch nie in seinem Leben so oft Danke gesagt, wie in den letzten Wochen seines Lebens. Mensch ist in seinem körperlichen Verfall zurückgeführt auf seinen innersten Kern und der ist gut und freundlich, dem Nächsten zugetan. Werdet wie die Kinder. Derart vorbereitet sind wir gut vorbereitet, wenn wir durch das Sterbenstor treten und Gottes Klarheit und Wahrheit uns umfängt. „Wie lange dauert es noch?“ hat er mich wiederholt gefragt und ich habe geantwortet, „Ich weiß es nicht.“. Er wusste genau, dass der Augenblick, vor dem er sich so gefürchtet hat, nahe war, jedoch, ich hatte den Eindruck, dass ihm die Furcht genommen war. Aller Widerstand war abgelegt und wie ich meine, auch die Angst.
Ich habe noch Weihnachten mit ihm gefeiert, an Heiligabend, als schon der erste Weihnachtstag angebrochen war. Heiligabend wird bei uns traditionell mit der ganzen Großfamilie gefeiert, alle Generationen mit Anhang um den Tisch. Anschließend wird gesungen und dann ist Bescherung. Ausgiebig, laut und fröhlich geht es zu. Mir ist das zu wenig Andacht und so habe ich mich mit meiner Familie seit einem Jahrzehnt zurückgezogen. Aber dieses Jahr haben wir unverhofft, zur Freude meiner Kinder, wieder mitgefeiert. Nach der langen und fröhlichen Feier bin ich noch bei meinem Vater vorbeigegangen. Ich habe mich an sein Bett gesetzt und in aller Andacht Weihnachtslieder für ihn gesungen, bis ich nicht mehr singen konnte. Er hat mir seine Hand entgegengestreckt, ich habe sie genommen und während der ganzen Zeit gehalten. Mein jüngerer Sohn hat sich still dazugesellt. Es war wunderbar. Hier war Weihnachten, hier spürte ich Weihnachten. Hier habe ich schließlich doch noch Weihnachten in diesem Jahr gefunden. Als ich geendet hatte, lag feierliche, andächtige Stille im Raum. Das Gesicht meines Vaters lag ganz friedlich im Halbdunkel. Jesus kann auch so an Weihnachten kommen und er ist ganz gegenwärtig. Ich hatte das Gefühl, dass ich Weihnachten noch nie so intensiv gefühlt habe.
Gestern sind wir zurückgereist. Abends bin ich in die Kirche und habe für ihn gebetet: Lieber Gott, vergib uns unsere Schuld, öffne deine barmherzigen Arme, nimm seine Hand, sende ihm einen Engel entgegen. In „meiner“ Kirche bekommen meine Gebete immer eine besondere Kraft. Und Gott hat gehört.
So ist mein Vater heute gestorben, zu Hause, ohne Krankenhaus, ohne Medikamente, ohne Arzt, im Kreis seiner Familie, mein Bruder und meine Schwägerin waren bei ihm, als er starb. Alles war erledigt. Alle waren vorbereitet, alle haben anerkannt, dass der Augenblick da war. Und weder meine Schwägerin, noch eines seiner Kinder, hatten Hemmungen oder Angst, mit seinem Sterben umzugehen. Keine Unwahrheiten, keine Beschönigungen, einfach die Dinge so nehmen, wie sie im Augenblick sind, auch wenn sie nicht schön anzusehen sind, der Geruch des Todes schon im Raum liegt.
Mein Vater ist leicht und in Frieden hinüber gegangen, mit seinem typischen schelmischen Lächeln im Gesicht, ein Lächeln, als hätte er eine diebische Freude in sich: Seht, ich konnte es, was keiner gedacht hat, dass ich es schaffe, habe ich geschafft. Mir gehört die Welt. Der Friede und die Größe Gottes lag auf seinem Gesicht. Wir sind alle froh, dass Gott es nach einem schwierigen Leben so gut mit ihm gemeint hat.
Jesus ist kommen
Grund ewiger Freude;
A und O, Anfang und Ende steht da.
Gottheit und Menschheit vereinen sich beide,
Schöpfer wie kommst du den Menschen so nah.
Himmel und Erde erzählet’s den Heiden:
Jesus ist kommen,
Grund ewiger Freude.
(EG, Nr. 66)
